Nur ein Blick
Sie lehnte an der Balustrade, ohne jegliche erkennbare Regung. Ihre nackten Arme stachen links und rechts aus dem dunkelgrünen Etuikleid heraus wie die kahlen Äste eines Winterbaumes, während sie ins Nirgendwo zu blicken schien.
Er saß am Fuße der Arena, 2. Reihe, Platz 5 in der Mitte – das waren die Karten, die ihm seine Frau Jahr um Jahr schenkte, immer Parkett, 2. Reihe, Platz 5 in der Mitte, immer in der Mitte, um bloß keine eindeutige Position beziehen zu müssen. Am 2. 5. vor 30 Jahren waren sie sich das erste Mal begegnet, sie hatte ihn gerettet aus den Armen eines reißenden Flusses, heute war er sich nicht mehr sicher, ob das wirklich die Rettung war.
Sein Blick schweifte – wie verabredet – kurz Richtung 2. Rang, die Balustrade, das dunkelgrüne Kleid. Sie war gekommen, wie verabredet, ob sie ihn wohl bemerkt hatte? Er wünschte sich nichts sehnlicher als gesehen zu werden, es war, als ob es nur eines einzigen Blickes bedurfte, um ihn in das Leben zurückzuholen. Wie hatte er sich nur so verlieren können? Jeden einzelnen seiner Träume und Wünsche hatte er nach und nach aufgegeben zwischen Reihe 2, Platz 5 und dieser ewig gleichen Mitte, die weder Spannung noch Lebendigkeit zuließ.
Sie lehnte nach wie vor wie angewurzelt an der Balustrade. Jede noch so kleine Bewegung schien ihr zu gefährlich, zu gewagt, als könne ein winziger Windhauch mit einem Stoß ihr Leben zerstören. Um sie herum tanzten die Menschen, gaben sich der Musik hin, stimmten ein in den wohl bekannten Refrain – nur sie, sie war umgeben von ihrem Kokon aus Stille, Sehnsucht und Erinnerung.
Einmal im Jahr trafen sich ihre Blicke, sie immer im selben dunkelgrünen Etuikleid (sie hatte ihre schlanke Figur über die Jahre behalten), er mit deutlich schütterem Haupthaar und immer müderem Blick und zwischen ihren Blicken seit dreißig Jahren die ewig gleiche Frage: Warum?