Gedanken der Dame Sei Shonagon um 1001 – 1010 n. Chr.

Schreiben

Was für eine alltägliche Übung ist das Schreiben – und doch, welche wunderbare Erfindung!
Jemand, der dir teuer ist, befindet sich irgendwo, in einem weit entfernten Weltwinkel, und du bist sehr in Sorge um ihn. Plötzlich kommt ein Brief. Ist es da nicht, als ob der, um den alle deine Gedanken kreisen, plötzlich leibhaftig vor dir stünde?
 
Oder du schreibst einen Brief und vertraust ihm deine geheimsten Gedanken und Nöte an, obwohl du nicht einmal weißt, ob dieser Brief jemals in die Hand des Empfängers gelangen wird. Ist nicht trotz dieser Ungewissheit eine schwere Last von deinem Herzen genommen?
 
Wie dunkel wäre oft unser Dasein ohne die Möglichkeit, einander zu schreiben. Wenn es schon eine Erleichterung bedeutet, alles niederzuschreiben, was uns quält und bedrückt, mit der leisen Hoffnung, dass der, um den man sich sorgt, es doch eines Tages lesen wird – wieviel mehr bedeutet da das Eintreffen einer Antwort! Ist sie nicht oft ein wahres Lebenselixier?
 
 
(aus: das Kopfkissenbuch der Dame Sei Shonagon, verfasst zwischen 1001 – 1010 n. Chr., Marix Verlag, Wiesbaden 2006, S. 13)